KLAUS PRIOR: “ALLES IST WERDEN UND VERGEHEN”
von Uta Appel Tallone
Suchte man das Gegenteil von Idylle, hier wäre man richtig. Am nördlichen Stadtrand von Lugano staut sich der Feierabendverkehr. Im grauen Dunst leuchtet die Reklame eines grossen Supermarkts, auf dessen Parkplatz sich die Autos drängen. Vorbei am klobigen Bau des Eisstadions führt der Weg zu Klaus Priors Atelier, das sich im Erdgeschoss eines Mietshauses aus den 90ern findet. Nüchtern und fast schon abweisend ist das Ambiente. Gut, dass Prior für unser erstes Treffen im Vorfeld Standortfotos geschickt hat, verirrt habe ich mich dennoch – was der Künstler dann sichtlich bedauert. Ein Namensschild fehlt, aber ein Blick durch’s Fenster genügt, um zu wissen, dass man richtig ist. Auf das kurze Klopfen an der Metalltür öffnet Klaus Prior sofort mit einladender Geste. Und flugs ist man in einer anderen Welt. Zu behaupten, es sei das chaotischste Atelier, das man sich vorstellen könne – so nachzulesen in der 2018 erschienenen Monographie “ad interim - work in progress” , trifft – zumindest für diesen Ort hier – nicht zu. Zwar herrscht umtriebige Arbeitsstimmung, dem Ganzen liegt aber eine in sich stimmige Ordnung zugrunde: Leinwände unterschiedlicher Grösse lehnen auf Staffeleien, auf einem Wandregal stehen sauber aufgereiht kleinere Skulpturen aus rotem Wachs, die auf ihren Bronzeguss warten. Auf einem Regal finden sich die für Prior so typischen kruden Köpfe aus Holz, im hinteren Teil des Ateliers sind die Maschinen und Werkzeuge deponiert, die der Künstler für seine Holzarbeiten benötigt: Schraubstock, Kettensäge, Brecheisen... auf dem grossen Arbeitstisch am Eingang, nahe am Fenster, liegen Papierbögen mit Zeichnungen, gerade erst angefertigt. Die Farbe ist noch feucht. In seiner Kunst l(i)ebt Prior das Wechselspiel: Weder das Material noch die Abmessungen der Werke noch die Technik sind einem festen Schema unterworfen. Nach einer Phase kleinformatiger, feiner Tuschzeichnungen können durchaus überdimensionierte Skulpturengruppen aus Holz entstehen. Der jeweilige Moment, die Intuition entscheidet, was entsteht, kein fest gefasster, vorausschauender Plan. 1945 in Wesel (D) geboren, erlebte Klaus Prior seine Kindheit in einem Trümmerfeld: Die Kleinstadt war zu 97 Prozent durch den Krieg zerstört; seine Erfahrungen im Nachkriegsdeutschland prägten Prior nachhaltig. Aber auch die aktuelle Geschichte ist ein Antriebsmotor für seine Arbeiten. Nicht von ungefähr findet sich in einem seiner Werkkataloge das Zitat seines österreichischen Bildhauerkollegen Alfred Hrdlicka (1928-2009): “Ich brauche keine Inspiration. Ich lese die Zeitung”. Historische Ereignisse der Vergangenheit und Gegenwart sind der Gärstoff für Priors Kunst. Die meist vertikal in den Raum ragenden Gestalten sind Ausdruck von Schmerz, Wut und Leid. Gleich, ob es sich um die Doppelskulptur Pietà handelt, um Golem oder um all die vielen Gestalten ohne Titel, immer beeindrucken sie durch ihre ungeschlachte, derbe und kraftvolle Präsenz. Nackt in die Welt gestellt, ohne individualisierende Gesichtszüge handelt es sich um Stellvertreter des Homo sapiens, Gestalten, die innere Kämpfe ausgetragen haben oder gerade darin verharren. Explosiv und eruptiv sind sie in ihrer Ausstrahlungskraft. In seiner Malerei ist der Künstler nicht minder entschieden. Da gibt es kein Zaudern oder Zögern, kein vorsichtiges Herantasten. Mit kräftigem Gestus wird die Farbe auf die Leinwand gesetzt, mitunter geschleudert. Dennoch, ein allmählicher Entstehungsprozess ist ablesbar, ja spürbar. Vielschichtig wie das Wesen des Menschen und die Bezüge der Menschen untereinander sind auch seine Bildwürfe. Das Widerspenstige in seiner Kunst reflektiert auch seine Biografie. Nach seiner Ausbildung zum Techniker im Turbinenbau verlässt Prior als 18-Jähriger seine Heimat. In Deutschland wäre er zum Militärdienst einberufen worden – für einen Freigeist und Pazifisten wie Prior keine Option. Seine erste Station ausserhalb Deutschlands ist die Schweiz, zunächst St. Gallen, wo er die Kunstgewerbeschule im Abendstudium besucht. Später, ab 1970, lässt er sich im Tessin nieder. Dorthin zieht es ihn immer wieder zurück. Und das, obwohl er im Grunde ein Weltbürger ist. Reisen – oftmals mit längeren Arbeits- und Ausstellungsaufenthalten verbunden – führten ihn nach Italien, Frankreich und nach Spanien, nach England, Belgien, Holland, Dänemark und nach Norwegen. Aber auch ausserhalb Europas war er zu Hause, oder hatte zumindest dort zeitweise einen Arbeitsort, ein Atelier. So in den USA und in Brasilien. Rund um den Globus studierte Prior in den Museen und Kirchen die Werke grosser Meister – Tintoretto ist nur einer seiner Heroen –, um dann wieder ins Atelier zurückzukehren, um das Gesehene und Erlebte in seiner Kunst auszudrücken. Die inneren Kämpfe sind den Arbeiten abzulesen, nichts wird beschönigt, geglättet, nivelliert. Und gerade deshalb berühren sie so, lassen den Betrachter nicht kalt. Klaus Prior kann auf eine lange Ausstellungstätigkeit in Museen und Galerien zurückblicken. 2016 wurde ihm in Locarno im Museo Casa Rusca eine Einzelausstellung gewidmet, und in der Tessiner Landschaft tauchen immer wieder seine unübersehbaren und markanten Skulpturen auf. So etwa im Parco San Grato in Carona, im Parco Scherrer in Morcote oder in freier Natur in der Leventina. Weitaus häufiger ist er aber mit Ausstellungen jenseits des Gotthards und in Deutschland vertreten. Mitunter wird er dort gemeinsam mit den Altmeistern des Neoexpressionismus und der Neuen Wilden gezeigt. Zuletzt vergangenen Sommer etwa in der Ausstellung unter freiem Himmel im Kunstraum bei Dreieich, nahe bei Frankfurt am Main. Neben den Exponaten von Klaus Prior waren auch solche von Markus Lüpertz, A. R. Penck und Jörg Immendorf vertreten. Die Stärke seiner Werke erklärt sich aus der inneren Haltung, mit welcher der Künstler an seine Arbeiten – gleich ob Zeichnung, Malerei oder Skulptur – herantritt. Anlässlich einer grossen Einzelausstellung in der Galerie Urs Reichlin in Zug im vergangenen Herbst fasste es Klaus Prior mit eigenen Worten so zusammen: “Wenn ich eine neue Arbeit beginne, versuche ich soweit als möglich erstmal an nichts zu denken, kein bestimmtes Ziel zu haben, frei von Wollen zu sein. Es entstehen Figuren, Köpfe, Gesichter, Gestalten, Fragmente. Die Konturen überschneiden sich, verschwinden, vergehen, werden ausradiert, überlagern sich oder erscheinen erneut, manchmal. Nichts ist endgültig, manchmal. Oder es bleibt wie es ist, manchmal. Zeichnung, Bild, Skulptur beeinflussen sich, es entstehen Wechselwirkungen, Abhängigkeiten, INTERPENDENZEN. In diesem spontanen Chaos voller Spannung und Emotionen liegt eine unreflektierte, tief verschüttete Sehnsucht nach Harmonie und Gleichgewicht. So entstehen Korrekturen, Übermalungen, Schnitte, Brüche, Zerstörung, Neuanfang. “Alles ist Werden und Vergehen, wir sind nur vorübergehend!”